Ersatztheologie und die Folgen

Die Kirche hat in den ersten Jahrhunderten (n. Chr.) eine Theologie geschaffen, die in wesentlichen Punkten nicht kompatibel mit der biblischen Botschaft ist und eine falsche Sicht auf Israel gibt. Es ist eine Lehre, die nicht nur dem jüdischen Volk viel Schaden zugefügt hat. Sie hat auch das Wachstum der Gemeinden seit Jahrhunderten behindert und zu vielen Irrwegen geführt. Diese Lehre heißt Ersatztheologie oder Enterbungslehre. Sie lehrt, Gott habe das jüdische Volk verstossen (enterbt), weil es Jesus als Messias abgelehnt hat und durch die Gemeinde ersetzt. Nach dieser Lehre ist die Kirche das „neue Israel“ und hat die Juden als Gottes auserwähltes Bündnisvolk abgelöst. Typisches Beispiel für die Enterbungslehre: Die christliche Gemeinde sei die Braut Christi. Doch die Schrift spricht überall davon, daß Israel die Braut Gottes ist (z.B. Hos. 2, 21). Israel wird als Jungfrau beschrieben, um die Gott wirbt (2. Kö. 19, 21; Jer. 31, 4; Jer. 18, 13). Ist Gott also Polygamist und hat mehrere Bräute? Nach Vorstellung der Ersatztheologie hat die „christliche Gemeinde“ (die es so in der Bibel gar nicht gibt, denn Paulus schreibt an christliche Gemeinden, nicht an DIE Gemeinde) als „geistliches Israel“ alle Segnungen der Schrift geerbt. Die Gerichtsworte verbleiben den Juden. Die Ersatztheologie gibt ihnen die Schuld am Tod Jesu.

Die Ersatztheologie ist die Wurzel für eine fast 2.000 jährige Geschichte von Antisemitismus, Hass und Verfolgung des jüdischen Volkes. Die Enterbungslehre IST TIEF VERWURZELT im christlichen Denken und seiner Tradition. Sie prägt bis heute weite Teile christlicher Kirchen und Gemeinden. In der ersten, rein jüdischen Urgemeinde in Jerusalem war unstrittig, dass alle Bündnisse – gerade auch der Neue Bund – mit Israel geschlossen wurden und dass Nichtjuden durch „Einpfropfen“ an diesem Bund teilhaben. (Röm. 9, 4; 11; Joh. 10, 16; Eph. 2, 12 ff.) Die erste Gemeinde wusste, nur durch den jüdischen Messias sind Nichtjuden „Miterben“ und haben Zugang zum jüdischen Erbe und zum „Bürgerrecht Israels“ und nicht umgekehrt. Die Vorstellung, der jüdische Gelehrte und Rabbiner Paulus habe eine neue Religion, das Christentum gegründet, ist genauso unbiblisch, wie die Annahme, Jeschua (Jesus) sei gekommen, das Judentum abzulösen. Das Matthäusevangelium und alle jüdischen Schriften bezeugen klar, daß der Messias aus dem jüdischen Volk stammt. Jeschua ist der Sohn Davids (Matth. 1, 1). Er ist ZUERST für das jüdische Volk gekommen. (Matt. 15, 24). Erst Generationen nach dem Apostel Paulus begann das “Christentum” die Gestalt anzunehmen, die letztlich zur “Christenheit” wurde. In den kommenden Generationen verdrängte die Kirche bald ihr jüdisches Erbe und begann die Juden auszugrenzen.

Historische Gründe:
Nach der Zerstörung Jerusalems ( 70 n. Chr.) und letztlich der Niederschlagung des Bar Kochba-Aufstandes ( 135 n. Chr.) durch die Römer, gab es kein Israel mehr. Die Römer benannten die Provinz Judäa in „Palästina“ um. Die Zahl der jüdischen Gläubigen schrumpfte immer mehr zu einer Minderheit innerhalb der christlichen Gemeinden. Aus den Katastrophen des jüdischen Volkes zogen die nicht-jüdischen Gläubigen den fatalen Schluss, Gott habe sein Volk für immer verstoßen und die christliche Kirche an Israels Stelle zum Träger der Verheißungen gemacht. Die Kirche sei das „wahre, himmlische, neue Israel“, das jetzt den Platz des auserwählten Volkes eingenommen habe. Eine Ansicht, die sich bis heute mehr oder weniger im Denken und der Theologie der meisten christlichen Gemeinden und der Kirche hält. Das Christentum sah in jedem neuen Unheil, das den Juden widerfuhr eine Bestätigung dafür, daß Gott sich tatsächlich von seinem Volk abgewandt hatte. So wie die Freunde Hiobs in dessen Leiden die Bestätigung dafür sahen, daß Gott Hiob bestraft und verworfen hatte. Ein verhängnisvoller Irrtum.

Die Kirche vereinnahmte das sog. „Alte Testament“ als rein christliches Buch, das erfüllt sei und begann die Bibel in der Tradition des Neuplatonismus allegorisch, d.h. symbolisch, spirituell auszulegen. Nicht-jüdische Kirchenväter brachten ab dem 2. Jhd. hellenistisch-antikes Gedankengut, insbesondere griechische Philosophie sowie heidnische Denkweisen in die Kirche ein und verschmolzen dieses mit der biblischen hebräischen Lehre zu einem Lehrgebäude, das mit dem hebräischen Denken unvereinbar ist.

Justin der Märtyrer war der Meinung, alles Leiden der Juden sei gerechte Strafe Gottes für den Tod Jesu. Etwa um das Jahr 200 nach Christus verfasste der Kirchenvater Tertullian die erste systematische Kampfschrift gegen die Juden und prägte damit die christliche „Enterbungs- und Ersatztheologie“. Diese Lehre wurde von allen Kirchenvätern adaptiert. Gleichzeitig stellten christliche Theologen den jüdischen Glauben als gesetzlich und minderwertig dar. Für sie lebten Juden unter dem Gesetz, Christen aber unter der Gnade. Eine Sichtweise, die bis heute in christlichen Gemeinden vorherrscht und eine völlige Unkenntnis des jüdischen Glaubens zeigt. Schritt für Schritt wurde die Verbindung zum Ölbaum Israel getrennt.

Das Konzil von Nicäa (325 n. Chr.) – Es gilt als erstes ökumenisches Konzil und besiegelte den Bruch mit den jüdischen Wurzeln des Christentums: Zum Konzil wurden die jüdischen Bischöfe, d.h. die Gemeindeleiter aus den noch verbliebenen messianisch-jüdischen Gemeinden, erst gar nicht eingeladen. In der Folge wurden die Fest- und Feiertage geändert. Das Konzil legte fest, dass Ostern am Sonntag nach dem jüdischen Passahfest gefeiert werden sollte. Man wollte nicht mehr den Gewohnheiten und Bräuchen der Juden folgen. „…Es ist daher passend, wenn wir die Praktiken dieses Volkes zurückweisen und in aller Zukunft das Begehen dieses Festes auf eine legitimere Art feiern. Lasst uns also nichts gemeinsam haben mit diesem äußerst feindlichen Pöbel der Juden” (Eusebius, De vita Constantini, III). Kaiser Konstantin identifizierte den christlichen Gott mit seinem Sonnengott. Christus wurde oft mit der Sonne verglichen. Konstantin ließ sich erst auf dem Sterbebett taufen und war tief in heidnischen Bräuchen verwurzelt. Der Kaiser griff aktiv in die Beratungen des Konzil ein. Ihm ging es bei der Förderung des Christentums um Stabilität und Einheit des Römischen Reiches. Der Shabbat wurde durch den Sonntag als christlichen Ruhetag ersetzt. Auch das 2. Gebot, „Du sollst dir kein Bildnis machen“, wurde gestrichen. Erst seit dieser Zeit spricht die christliche Kirche vom „Alten Testament“. Doch Jesus und die ersten Jünger kannten kein „Altes Testament“. Jeschua lehrte: „Bis Himmel und Erde vergehen wird nicht vergehen der kleinste Buchstabe noch ein Jota vom Gesetz (Tora), bis es alles geschieht“ (Matt. 5, 18). Die erste Gemeinde lebte aus der Heiligen Schrift. Das waren die Tora und der Tenach. Jesus, die Apostel und Paulus lehrten aus der Tora. Es gab kein Neues Testament. Jeschua selbst, als das lebendige Wort Gottes (Joh. 1) galt als die fleischgewordene Tora.

Besonders der einflußreiche Denker Augustinus von Hippo (Augustin 354 n. Chr.) prägte das kirchliche Verständnis in Bezug auf Israel.  Augustinus entwickelte seine Theologie unter dem Einfluss platonischer Schriften. Heidnische Philosophien bildeten den Boden für jene dualistische Weltsicht mit den Gegensätzen Licht und Finsternis, Gut und Böse, Heil und Unheil und schließlich Kirche und Israel. Augustin sieht die Erlösungsfähigkeit als Alleinstellungsmerkmal der Kirche. Danach kann allein „Mutter Kirche“ das Heil verwalten. „Damit ist der Eckpfeiler gesetzt, der schließlich im Jahre 420 n. Chr. zur Dogmatisierung der Substitution führt, die das Heil von den Juden hin zur katholischen Kirche manifestiert“ (Als Augustinus irrte, Entstehung der Substitutionstheorie. Rolf Wiesenhütter)

Mit dem Aufstieg zur Staatsreligion (ab ca. 380 n. Chr.) vollzog sich weiter konsequent die Abkehr von den jüdischen Wurzeln des christlichen Glaubens. Die Theorie der völligen Unvereinbarkeit alles jüdischen mit dem Christentum wurde für die nächsten 1400 Jahre zur Grundlage aller Gesetzgebung im Römischen Reich und der nachfolgenden europäischen Staaten.

Folgen der ErsatztheologieJuden wurden ausgegrenzt, entrechtet, gedemütigt und getötet. Ausgerechnet Christen, die Liebe und Barmherzigkeit predigen, hatten kein Mitleid mit den Juden, verhielten sich unbarmherzig gegenüber ihrem Leid und ihrer Not. Sie fingen an sie zu hassen und zu verfolgen. Antisemitismus mit theologischer Legitimation! Die Kirche hat sich selbst von ihren jüdischen Wurzeln, ihrem Fundament getrennt und sich gleichzeitig  eigene, andere Wurzeln gesucht. Sie fand sie z.B. in der griechischen Philosophie. Viele Philosophen wurden Christen und brachten Gedanken aus dem Griechentum in die Theologie ein.

Luthers kritische bis feindliche Haltung gegenüber den Juden ist bekannt. Diese Haltung hatte über Jahrhunderte prägenden Einfluss auf den Protestantismus. Von seiner anfänglichen Judenfreundlichkeit wich der Reformator ab 1526 immer stärker ab. In seinen Schriften „Wider die Sabbather“ und „Wider die Juden und ihre Lügen“ verurteilte er sie scharf, rief zur Verbrennung ihrer Synagogen auf und wiederholte Argumente der Kirchenväter für Ihre Verwerfung. Auch der alte Vorwurf, die Juden strebten nach Weltherrschaft, findet sich bei Luther. Der Reformator hat keinen neuen Antisemitismus erfunden. Aber er bündelte mittelalterliche antisemitische Klischees und transportierte sie in die Neuzeit. Die Nazis rechtfertigten ihren Judenhass mit den Schriften Luthers.

Spätestens seit dem Holocaust begann in den christlichen Kirchen ein Prozeß des Umdenkens: Die katholische Kirche setzte mit der Erklärung „Nostra Aetate“ von 1965 ein Zeichen für Neuorientierung und forderte, daß in der kirchlichen Lehre neu über das Judentum geredet werden müsse. Die Evangelische Kirche folgte etwa 15 Jahre später. Gesellschaften für christlich-jüdische Zusammenarbeit entstanden. In den Freikirchen, pietistischen und evangelikalen Lagern tat man sich da schwerer. Es gab hier keine klaren Bekenntnisse.

Besonders durch die Philosophie Platos und anderer griechischer Denker drang ein Dualismus in die kirchliche Theologie ein. Plato vertrat die Ansicht, dass es zwei Welten gibt: eine sichtbare, materielle Welt und eine unsichtbare, geistige. (Höhlengleichnis) Diese beiden Welten stehen nach Platons Ansicht in Spannung zueinander. Die materielle ist der geistigen untergeordnet. Die menschliche Seele kam aus der geistigen Welt, aus der sie in die irdische fiel und jetzt im Gefängnis des materiellen Körpers sitzt. Erst der Tod bringt Befreiung. Origines, einer der Kirchenväter mit dem größten Einfluss auf die kirchliche Theologie, war platonischer Philosoph der Schule Alexandriens.

Die Hebräer dagegen sehen die Welt als gut an. Obwohl sie gefallen und unerlöst ist, bleibt sie doch Gottes gute Schöpfung. Anstatt der Welt zu entfliehen, erlebt der Mensch Gottes Gemeinschaft, Liebe und Errettung inmitten der geschichtlichen Ordnung in der Welt. Das hebräische Denken kennt weder einen kosmologischen Dualismus – geschaffene Welt böse und  geistliche Welt gut – noch einen anthropologischen Dualismus (Seele gegen Geist). Der Mensch ist nach hebräischem Denken eine Einheit von Seele und Körper und soll mit seiner ganzen Existenz Gott dienen. Der Körper ist nicht gut oder schlecht, sondern es geht darum, ob er Gott untergeordnet ist und dient, oder nicht.

Zölibat
Die Einführung des Mönchtums und des Zölibats lassen sich auf den griechischen Dualismus zurückführen. Beide sind unbiblisch. Nach der Bibel ist die Ehelosigkeit eine Frage der Berufung und nicht des Berufes (Priester). Die Ehe ist nach biblischer Auffassung  eine von Gott eingerichtete, heilige Institution. („Es ist nicht gut, daß der Mensch allein sei.“)

Glauben
Für viele Christen bedeutet Glaube eine Aktivität des Intellekts, ein intellektuelles Fürwahrhalten, ja-sagen zu einer Sache oder zu Dogmen. Glaube hat mehr mit dem Intellekt, der „geistigen“ Welt zu tun, als mit der natürlichen, der irdisch-praktischen. Gerade Protestanten sind stark geprägt von der Prioritätensetzung: Glaubensbekenntnis vor Lebensführung, Dogma vor guten Taten.
Die hebräische Vorstellung von Glauben ist vielschichtiger. Das zeigt schon das hebräische Wort für Glaube „Emuna“, von dem auch das Wort „Amen“ herrührt. Für den Hebräer heißt Glaube Vertrauen. Glaube bedeutet mehr als ein Fürwahrhalten. Der Glaubensmensch tritt hinaus ins Leben, um auf der Grundlage seines Glaubens zu handeln. Glauben heißt, sich im Leben nach vorne zu bewegen, zu wissen, dass Gott dort wartet. Hebräer 11, 1ff. vermittelt diese hebräische Glaubensweise.
Die erste Bitte im Vater Unser lautet: „jitkadesch schimcha“ – „Geheiligt werde dein Name!“ Jesus lebte in dieser jüdischen Anschauung: durch unseren Wandel, unser Verhalten ehren wir Gott. Nicht durch den Glauben an Dogmen.

Für die griechische Welt ist Erkenntnis oft begrenzt auf Definitionen, abstrakte Konzepte oder theoretische Prinzipien. Für Hebräer dagegen heißt etwas „kennen“, es zu erfahren. Eine Person zu kennen, bedeutet, eine innige Beziehung zu ihr zu haben. Das hebräische Wort für „kennen“, „yada“, heißt, etwas zu begegnen, zu erfahren und auf innige Weise zu teilen. Deshalb heißt es „Adam erkannte Eva“: „yada“ steht hier für die geschlechtliche Vereinigung von Mann und Frau. Kennen, Wissen oder Lehren war für den Hebräer also nicht nur eine intellektuelle Tätigkeit, sondern auch eine emotionale, praktische.

Ein Beispiel für die hebräische Denkweise ist die Vorstellung vom „Königreich Gottes„. Im „Vaterunser“. heißt es: „Dein Reich komme“. Wenn Jesus vom Königreich Gottes bzw. dem Königreich der Himmel spricht (Matth. 4, 17 – hebr. malchut schamaim),  meint er damit nicht einen Regierungsbezirk im regionalen Sinne wie z.B. das Königreich von Belgien. Das Königreich Gottes ist vielmehr ein „verbales Hauptwort“: es geht um die Handlung, um das, was der König tut. Wenn Jesus vom Königreich Gottes redet, so bezieht er es auf sich als den König. Jesus geht es also bei der Rede vom Königreich Gottes darum: Lassen wir ihn König sein in unserem Leben, ist ER der Herrscher? Wenn Jesus seine Jünger lehrt: „Trachtet zuerst nach dem Reich Gottes, so wird euch dies alles hinzugefügt“ (Matthäus 6,33), meint er: wenn er König ist in unserem Herzen und Leben, wenn er die Herrschaft hat, dann sorgt er auch für alle anderen Bedürfnisse.

Griechisches Denken ist ein Kreislaufdenken, Geschichte eine ewige Wiederholung. Im Strom der ewig wechselnden Ereignisse suchen Griechen das Unveränderliche, die gesetzmäßige Wiederholung. Wer Gott sucht, findet ihn im Unveränderlichen, im geistigen Sein, in den Ideen.

Das hebräische Denken dagegen ist zielgerichtet. Gott offenbart sich Israel in der Geschichte, nicht in den Ideen. Er offenbart sich, indem er handelt und wirkt. Sein Wesen lernt man nicht in Lehrsätzen, sondern in Handlungen kennen. Die meisten Bücher des sog. Alten Testaments sind historisch. Sie zeugen vom Handeln Gottes mit seinem Volk Israel. Geschichte ist Bewegung auf ein Ziel hin, das von Gott gesetzt ist.

Im Hebräischen ist das Wirkliche in Bewegung, im Griechischen in Ruhe und Harmonie. Im Griechischen bedeutet Ruhe das höchste Sein. Wenn etwas sich bewegt, ist es nicht Gott und nicht vollkommen. Gott muss deshalb „der unbewegte Beweger“ sein.

Im Hebräischen aber heißt es: Er ist wirksam! Das Wort „Er ist“ gibt es eigentlich nicht. Gegenwart und Zukunft sind gleichzeitig, was geschieht ist schon jetzt, aber gleichzeitig zukünftig. Der biblische Gott ist ein Gott, der Empfindungen und Gefühle hat, er ist voll Erbarmen, kann im Zorn handeln und in Liebe sich dem Menschen zuwenden.

Wortverständnis: Der hebräische Begriff Dabar (דבר) bedeutet zugleich Wort, Tat und Sache. Die Grundbedeutung ist „hinten sein“, wie einen Wagen, den man schiebt, etwas vorwärts treiben. Dann heißt es reden. Das Wort Gottes ist nicht nur und nicht in erster Linie Ausdruck von Gedanken, sondern …eine gewaltige dynamische Macht. Wie es im Hebräerbrief heißt (Hebr 4,12f.): „Denn das Wort Gottes ist lebendig und kräftig und schärfer als jedes zweischneidige Schwert.“

Gott spricht und es geschieht. Er ruft zu einer Entscheidung und zu Glaubensgehorsam. Hören heißt im hebräischen deshalb tun. („Sch’ma Israel“)

Im Griechischen dagegen ist das Wort (Logos) das Maßvolle, ein Gesetz, das die Vernunft erkennen kann. (Logik) Logos kommt von legein: sammeln, ordnen, dann als weitere Bedeutung reden, rechnen und denken. Das Hauptwort Logos heißt Wort und Vernunft. Es will und kann also nicht zuerst kraftvoll wirken, sondern informieren und zum vernünftigen Denken führen. Es spricht die Vernunft an, das hebräische Wort jedoch den Willen.

Die hebräische Lebensweise ist praktisch orientiert und besteht in der ständigen Beziehung zu Gott. Gott ist nicht fern im Himmel, von dem man nur durch komplizierte und auf lateinisch gesprochene Dogmen hört, sondern er hat sehr viel mit dem Hier und Jetzt zu tun und wird im Alltag erfahren. Bei den Hebräern ist das ganze Leben Gottesdienst, Feste waren immer religiös, immer eine Aussonderung vom Alltag für Gott und sie wurden eifrig gefeiert. Unsere Unterscheidung Gottesdienst – „weltliche Feiern“ gab es bei ihnen nicht. Auch Freizeit oder Urlaub gibt es nicht – die Beziehung zu Gott durchdringt den gesamten Alltag.

Die biblische Offenbarung ist eine Offenbarung des Wortes, im Heidentum ist es in aller Regel das Bild, das Erlebnis, die Erfahrung. Am Sinai hat Gott Mose und Israel diesen Unterschied eingeschärft, weil Gottes Volk von jeher in Gefahr stand, den Weg des Heidentums zu gehen und so auch für heidnische Inhalte anfällig zu werden.

(2. Mose 20, 22) „Und der HERR sprach zu ihm (Mose): So sollst du den Israeliten sagen: Ihr habt gesehen, dass ich mit euch vom Himmel geredet habe.“ Deshalb sollen sie keine Götterbilder machen. Sie sollen sich an die Offenbarung halten, wie Gott sie ihnen gegeben hat. Der Theologe Karl Barth sagt: „Wir dürfen von Gott nur so reden, wie ER von sich redet.“

Wir dürfen zum Beispiel von Gott als Vater reden, weil Gott sich so in der Bibel vorgestellt hat. Er ist kein Geschlechtswesen, hat aber von sich als Vater geredet. Wir können von Ihm aber nicht als Mutter reden, denn so hat Er nicht von sich geredet.

Der personale Gott offenbart Sich durchs Wort: „Ein Prophet, der Träume hat, der erzähle Träume; wer aber mein Wort hat, der predige mein Wort recht. Wie reimen sich Stroh und Weizen zusammen? spricht der HERR.“ (Jer 23, 28f.)

„Ist mein Wort nicht wie ein Feuer, spricht der HERR, und wie ein Hammer, der Felsen zerschmeißt?“ Die heidnischen Kulte dagegen waren Erlebniskulte mit Einbeziehung aller Sinne.

Unser Denken heute ist geprägt von Gegensätzen, von Alternativen, eben durch diese griechischen Elemente: ein Gegensatz zwischen alt und neu, Altes Testament und Neues Testament, ein Gegensatz zwischen Leib und Geist: Der Leib, der schlecht ist, der Geist, der gut ist – und natürlich auch der Gegensatz zwischen der Kirche und Israel. Dieses Entweder-Oder-Denken stammt nicht aus der Bibel. Auch wenn wir das Neue Testament lesen, merken wir, dass es dazu eigentlich im Widerspruch steht. Trotzdem wurde dieses Denken identitätsbestimmend für die Kirche und insofern die neue Wurzel.

Folgen der Ersatztheologie theologisch: Die Ersatztheologie ist im Grunde genommen lästernd, weil sie Lügen über Gottes Natur erzählt, dass er seinen ewigen Bündnissen und Verheißungen mit Israel untreu sei. Sie impliziert, er habe gelogen oder sein Denken verändert. Dazu gehört auch die Ansicht, der Gott des Alten Testaments sei anders als der des Neuen Testaments, dort sei er zornig, jetzt sei er gnädig. Diese Doktrin zerstört den Glauben an Gottes Wort. Die Bibel lehrt, dass Gott unveränderlich ist und unser vorrangiges Ziel sein sollte, seinen Namen zu verherrlichen und zu heiligen. Durch seine Königsherrschaft hier auf Erden, indem sein Wille geschieht: „Dein Wille geschehe, wie (schon) im Himmel so auf Erden.“ (Matt 6: 9-10)

Gottes Ziele sind nicht humanistisch, das heißt,  nicht der Mensch steht im Mittelpunkt, auch wenn wir das gerne so hätten. Gott geht es in erster Linie nicht darum, Menschen zu retten oder zu verbessern, oder dass Friede auf Erden ist. Obwohl Gott das will, sind das sekundäre Ziele. (Hes.36; Psalm 72: 19; Jesaja 6: 3, 11: 9; Hab. 2: 14; Mal 1: 11). Gott geht es immer zuerst um seinen Namen.

Die Ersatztheologie hat große Auswirkungen auf unser Gottesbild. Zwei Eigenschaften Gottes sind relevant für das Thema: seine Allmacht und seine Treue. Wie können wir sicher sein, daß Gott zu uns treu steht, wenn er Israel verworfen hat? Die Bibel sagt, was er verspricht, das hält er. Auf sein Wort können wir uns vollkommen verlassen. „Nicht ein Mensch ist Gott, dass er lüge, noch ein Menschensohn, dass er bereue. Sollte er gesprochen haben und es nicht tun?“ (Num. 23: 19) Das Wort Gottes bleibt in Ewigkeit bestehen. (Matt. 24: 35) Gott hat Israel in Treue berufen: „…im Hinblick auf die Auserwählung sind sie [die Juden] Lieblinge um der Väter willen. Denn unbereubar sind die Gnadengaben und die Berufung Gottes.“ (Römer 11: 28b-29)

Das christliche Gottesbild ist oft einseitig: Nur Gottes Liebe wird betont. Sein Zorn, seine Heiligkeit und sein Gericht werden ausgeblendet. Dabei gehören sie zu seinem Wesen. Im Christentum ist die Botschaft vom Königreich Gottes verloren gegangen, weil man Israel vergessen hat. Gott ist der König Israels und die vornehmste Aufgabe eines Königs ist zu richten. Er entscheidet, was gut und böse ist. Wir sind heute geprägt von Humanismus und Toleranz. Aber Gott ist weder Humanist noch tolerant. Er ist König, er regiert. (Jes.52, 7) Die Völker erzittern vor ihm. (Ps. 99) Der Jünger Johannes fällt wie tot zu Boden, als er dem Auferstandenen begegnet. (Off. 1)

Die Ersatztheologie macht blind für den Heilsplan Gottes: Ein Ausdruck der Treue Gottes ist der ewige Bund, den Gott mit Abraham, Isaak und Jakob geschlossen hat. In diesem Bund verheißt Gott Israel Land und Segen (Gen. 12; Psalm 105). Gott ist König und er gibt sein Land, wem er will. (3. M. 25, 23)
Gott, Volk und Land gehören untrennbar zusammen. Die Ersatztheologie verblendet Gläubige gegenüber dem größten Wunder der Neuzeit: Gottes Volk kehrt wie lange zuvor verheißen ins LAND der Väter zurück. Die Landverheißung ist Herzstück der Bundesgeschichte Gottes mit Israel. (Gen. 12; 17) In der kirchlichen Verkündigung spielt sie aber kaum eine Rolle. Weil die Kirche Israel als Bundesvolk enterbt hat, hat sie die Landverheißungen annuliert, vergeistlicht und die Existenz Israels als ewig erwähltes Volk geleugnet. Deshalb wird auch heute in christlichen Kreisen von Palästina gesprochen. Es erinnert an die Zerschlagung des jüdischen Staates durch die Römer als Gottesstrafe, die Israel zugunsten der Kirche enterbte. Augustinus unterscheidet zwischen der Zusage des Landes und „etwas weit Herrlicherem, das nicht dem fleischlichen, sondern dem geistlichen Samen gilt, nicht Israel, sondern allen Völkern.“ Auch heute tun sich viele Christen schwer mit der Landverheißung. Eine kirchliche Reaktion auf die Staatsgründung Israels 1948 blieb lange aus, obwohl sie faktisch die Widerlegung der heilsgeschichtlichen Entwertung Israels war. Bis heute wird die Staatsgründung Israels  als rein politisches Geschehen verstanden.

Der Prophet Hesekiel macht deutlich, daß die Landgabe und Rückführung ins Land Selbstverpflichtung und Bundeszusage Gottes sind. (Hes. 36) Er muß Israel zurückführen, sonst würde sein Wort zu Recht angezweifelt werden. Die Ersatztheologie verhindert auch, daß Christen ihren Dienst an Israel erkennen. Nämlich Israel zu schützen und zu unterstützen. Doch keine christliche Kirche hat je ihre Aufgabe darin gesehen, Israel zu helfen, aus der Hand seiner Feinde zu befreien, damit Israel zu seiner Bestimmung zurückkehrt, um in ihrem Land ohne Furcht Gott dienen zu können und so zum Segen für die Völker zu werden. Gott will uns aktiv in seinen Heilsplan miteinbeziehen. (Jes.62, 6; 40)Was mit Israel geschieht hat etwas zu tun mit Gott und seinem Wort. Hält er es, erfüllt er seine Prophezeiungen? Deshalb nennt er Israel Zeuge für sein Handeln. (Jes.43) Gott schreibt Geschichte mit seinem Volk, diese Geschichte zeigt, daß Gott die Welt lenkt. Er ist König. (Ps. 2; 79; 99) Deshalb kann uns Israel nicht gleichgültig sein. Wir sollen dieses Handeln weitersagen, bejubeln, ihm danken. „Jauchzet ihr Himmel und die Erde freue sich.“ (Jes. 49) Paulus zitiert in seinem Brief an die Römer aus der Thora: „Freut euch, ihr Heiden mit seinem Volk.“ (Röm. 15, 10) Gott hat Israel zum Banner für die Völker gesetzt. Ein Banner ist etwas auf das man achten soll. Jesus sagt: „Lernt vom Feigenbaum.“

Israel ist das „Herzensthema Gottes“, die Bibel nennt Israel „Gottes Augapfel“ (Sachj. 2, 12). Gott hat seinen Namen mit Israel  ישראל verbunden. ER ist mit Israel im Bund. Der Alte Bund am Sinai und der Neue Bund wurden mit Israel geschlossen (Jer. 31, 31-34). Mit der christlichen Gemeinde oder Kirche wurde kein Bund geschlossen. „Ihnen (Juden) gehören die Bundesschlüsse“, sagt Paulus, als er über seine Brüder nach dem Fleisch spricht (Röm. 9, 4). Als Jesus beim letzten Abendmahl mit seinen jüdischen Jüngern zusammensitzt, sagt er: „Dies ist der Kelch, der neue Bund in meinem Blut, der für euch vergossen wird.“ (Lk. 22, 19-22). In diesem Moment schloss er den neuen Bund mit Israel. Kein einziger Nichtjude war anwesend. Wenn du an den Gott Israels glaubst, wenn dein Retter der König der Juden ist, dann bist du in diesen Bund eingetreten, den Gott mit Israel geschlossen hat. Es gibt keinen Extra-Bund für dich. Es ist entweder der Bund mit Israel, oder es existiert kein Bund für dich. Dann hast du das Bürgerrecht Israels (Eph. 2, 12) und bist Miterbe (Eph. 3, 6). Auch beim Pfingstfest in Jerusalem waren nur Juden (und Proselyten) anwesend (Apg. 2, 11). Das letzte Abendmahl und Pfingsten waren eine rein jüdische Angelegenheit. Erst mit dem römischen Hauptmann Cornelius wurden auch Heiden zu den Geretteten hinzugetan (Apg. 10, 44-47). Es ist der Bund Gottes mit Israel, an dem wir Nichtjuden aus Gnade  teilhaben dürfen.

„Jesus ist Jude“. „Das Heil kommt von den Juden.“ Was machen wir mit dieser Information? Ist es für uns und unsere Gemeinde heute irgendwie relevant? Paulus war auch Jude. Er war Thora-treuer Jude.

Das Neue Testament ist ein rein jüdisches Buch, auch wenn es in weiten Strecken in griechisch geschrieben ist. Auch die Autoren waren Juden und die Denkweise, die den Texten zugrunde liegt, ist eine jüdische.

Inwiefern sind die jüdischen Wurzeln relevant für unsere Gegenwart? Sind es Wurzeln, die verbinden, oder sind sie eher etwas Historisches, was getrennt dasteht?

Bei einem Baum werden über die Wurzeln Wasser und Nährstoffe aufgenommen und gespeichert. Außerdem verankern Wurzeln den Baum, geben ihm Stabilität. Können auch wir in diesem Sinne von jüdischen Wurzeln unseres Glaubens sprechen? Können wir sagen, Israel ist unsere Wurzel?

Wenn unser Glaube jüdische Wurzeln hat, dann muss er im Wesen jüdisch sein. Merkt man etwas davon in unseren Gottesdiensten und in unserem Gemeindeleben?

Gott gibt uns in Römer 11 das Bild des Ölbaums: die Heidenchristen sind zu Israel in den Ölbaum eingepfropft. Er ruft uns auf, Israel zu segnen und selbst „an dem Saft des Ölbaums Anteil zu haben“. Gott hat weiterhin ein Ziel mit Israel, einen Heilsplan. Dadurch, dass viele in Israel Jesus nicht als ihren Messias annahmen, konnte das Heil erst zu uns Heiden gelangen. (Röm. 11) Gott hat den Juden einen Geist der Betäubung gegeben. Augen, die nicht sehen. Ohren, die nicht hören. Die Bestimmung der Heiden ist es, das Volk Israel zum Nacheifern zu reizen, dass sie so leben, dass das Volk Israel erkennt: der Messias lebt nicht bei uns, der Messias lebt unter den Heiden! Israel ist noch immer unsere Wurzel. Gott wollte es, dass Israel unsere Wurzel ist. Wenn wir in biblischer Beziehung leben, dann muss Israel unsere Wurzel sein.

In Röm. 11 findet sich ein Beispiel, wie die Ersatztheologie auch in die Übersetzung eingeflossen ist: V. 15. „Wenn ihre Verwerfung die Versöhnung der Welt ist, was wird ihre Annahme anderes sein, als Leben aus den Toten?“

Der messianische Jude David Stern weist in seinem Kommentar zum jüdischen NT darauf hin, dass der Genitiv hier zweierlei bedeuten kann: Entweder dass die Juden von Gott verworfen wurden, oder dass sie selber diejenigen sind, die Jeschua verworfen haben. Da Paulus zu Anfang deutlich gemacht hat, dass Gott sein Volk nicht verworfen hat, übersetzt Stern Vers 15 sinngemäß so:

„Denn wenn ihre Verwerfung Jeschuas die Versöhnung für die Welt bedeutet, was wird es dann bedeuten, wenn sie ihn annehmen?
Die herkömmliche Übersetzung ist also massiv vom antijüdischen Geist der Kirche und ihrem Streben nach Dominanz verfälscht.

Paulus erinnert uns daran, dass wir fortwährende Schuldner Israels sind – für unseren Messias, unsere Schrift, und sogar für unseren Gott . (Röm. 15) So sollte es für Christen das Mindeste sein, an der Seite des jüdischen Volkes zu stehen und für es zu beten. Unser Herzensanliegen sollte aus einer tiefen Zuneigung und einer kompromisslosen Bejahung des unwiderruflichen Bündnisses mit Israel entspringen, und sowohl die Verheißungen, als auch das Land und Israels Identität als Volk mit einbeziehen.

Die Frage ist, was hat sich im Neuen Testament im Vergleich zum Alten Testament tatsächlich geändert? Hat sich überhaupt viel geändert?  Der Jesus des Neuen Testaments, der auch die Heiden rettet, ist jedenfalls nie aus dem Judentum ausgetreten. Es ist als Jude gestorben, als Jude auferstanden und als Jude in den Himmel gefahren. Das Matthäus-Evangelium beginnt mit dem Stammbaum Jesu. Er ist tief verwurzelt in seinem jüdischen Volk. Auch der Pharisäer Paulus blieb nach seiner Bekehrung Jude.

Einige Beispiele für weit verbreitete Missverständnisse:
Für viele Christen ist die Geschichte des AT eine Geschichte des Scheiterns. (R. Bultmann) Gottes Plan die Menschheit durch das Volk Israel zu segnen sei gescheitert, weil Israel versagt habe. Deshalb kommt jetzt ein neuer Plan, von dem das NT berichtet. Statt des Volkes Israel ist jetzt Jesus der Heilsbringer Gottes. Oft hört man den Satz: „Es geht nicht um Israel, es geht um Jesus“.

1) Für die jüdische Tradition ist die Thora keine Geschichte des Scheiterns, sondern der Treue Gottes, die trotz Ungehorsam und Leid unverändert besteht. Die Geschichte des Exils ist für Juden nicht – wie für viele Christen – der Beweis, daß Israel versagt hat, sondern Beweis, daß Gott selbst durch Versagen zum Ziel kommt und seinem Volk treu bleibt.

2) Jesus predigt die „Königsherrschaft der Himmel“, nicht ein fernes Himmelreich, wie Luther übersetzt. (Matth. 4) Dies ist keine christl. Idee, neue Lehre, oder neue Religion. Es ist die zentrale Aussage des Tenach (Altes Testament) und des Judentums. Deshalb betont Jesus (Matth.5, 17), er erfülle oder bestätige das Gesetz und die Propheten, oder anders, er erfülle die Königsherrschaft Gottes. Ziel dieser Herrschaft ist Wiederherstellung und Heilung der Schöpfung. Deshalb heilt Jesus am Shabbat. Nicht um den Shabbat außer Kraft zu setzen. Er stellt die Schöpfung Gottes wieder her, weil durch ihn alles geschaffen ist. Er ist der Herr über den Shabbat. Juden wissen genau, zu einem König gehört ein Königreich, das Land.

3) In der Bergpredigt (Matthäus 5) sagt Jesus: “Ihr habt gehört, dass da gesagt ist, Auge um Auge, Zahn um Zahn. Ich aber sage euch, dass ihr nicht wiederstreben sollt dem Übel, sondern, wenn dir jemand einen Streich gibt auf deine rechte Backe, dem biete die andere auch dar. Wenn jemand mit dir rechten will und deinen Rock nehmen, dem lass auch den Mantel und wenn dich jemand nötigt eine Meile, so gehe mit ihm zwei.“  Und am Schluss fasst Jesus zusammen: „Liebet eure Feinde, segnet, die euch fluchen, tut wohl denen, die euch hassen, bittet für die, so euch beleidigen und verfolgen auf dass ihr Kinder seid eures Vaters im Himmel. Denn er lässt seine Sonne aufgehen über die Bösen und über die Guten und lässt regnen über Gerechte und Ungerechte“.

Nach gängiger christlicher Auslegung schafft Jesus hier ein sogenanntes alttestamentliches jüdisches Racheprinzip ab: Auge um Auge, Zahn um Zahn. Wie du mir, so ich dir. Es wird behauptet, Jesus ersetze dieses durch ein neues, christliches Prinzip der Liebe.

Diese Auslegung ist allerdings völlig falsch. Jesus und auch jeder gläubige Jude haben uns gegenüber einen Vorteil. Sie kennen die zitierte Stelle aus der Thora praktisch auswendig und im Zusammenhang, sowie im hebräischen Originaltext. Aus 2. Mose 21, 23 und 24 und dem Kontext wird deutlich, dass es gar nicht um Rache geht. Es geht um einen Tatbestand von Körperverletzung und es geht um Schadenersatzregelungen. Dieses Prinzip von Schadenersatz gibt es schon am Anfang der Bibel. In 1. Mose 4, wo Gott Adam durch Eva einen Ersatz schafft für Abel, der totgeschlagen wurde: Der Sohn Set. Set bedeutet Ersatz.

Und so heißt es in (2. M. 21) auch, dass ein Augenersatz für ein Auge gegeben werden soll. Im Judentum wurde dieses „Auge um Auge“ nie als ein Vergeltungsgesetz geprägt und aufgefasst, sondern als eine Rechtspraxis, die einfach sicherstellt, dass demjenigen, dem Schaden zugefügt wurde, eine Ersatzleistung zusteht.

Jetzt wird klar, dass „Auge um Auge“, kein Racheprinzip ist, das Jesus abschafft und durch ein Prinzip der Gewaltlosigkeit ersetzt. Jesus fordert einfach von seinen Jüngern, dass sie, wenn sie geschädigt oder beleidigt werden, auf den ihnen zustehenden Schadensersatz verzichten sollen. Er fordert uns auf, großzügig zu sein in Fällen, wo wir Schaden erleiden.

4)Jesus und die Ehebrecherin:

Nach christlichen Auslegung wird diese Geschichte gerne so interpretiert, als sei die Ehebrecherin hier nur knapp der Steinigung entgangen. Die Pharisäer und Schriftgelehrten konnten es kaum erwarten, ihre Mordlust umzusetzen. Erst als Jesus eingriff, ließen sie enttäuscht die Steine fallen. Ein Blick in den Text zeigt, daß dies gar nicht vorkommt. Jesus verhindert nicht die Steinigung, sondern führt eine Diskussion über Gesetzesauslegung. Die Schriftgelehrten wollen wissen, wie das Gesetz des Moses hier ausgelegt werden soll. Es schreibt zwar die Todesstrafe vor, diese wurde aber seit Generationen nicht mehr umgesetzt. Wir dürfen die jüdische Welt Jesu nicht einfach mit der Welt des Alten Testaments gleichsetzen.

Was kann man aus den Beispielen lernen?

Wir können die Defizite in unserem Verständnis aufarbeiten, wir können uns von mancher Prägung lösen und uns der Frage nach den Wurzeln stellen. Diese mündet in die Frage nach der Beziehung zu Israel.

In welche Richtung sollen wir gehen? Gehen wir zu unseren Glaubenswurzeln zurück? Zu welchen? Zu den selbsterwählten der Kirchengeschichte, oder zu den biblischen? Das ist eine Entscheidung, die wir grundsätzlich treffen müssen, die wir aber nur dann treffen können, wenn uns diese Unterscheidung bewusst ist.

Wir können bewusst leben aus dieser Abhängigkeit zu Israel, wie Paulus sie  beschrieben hat. Wir brauchen den Saft des edlen Ölbaums, sonst verhungern wir geistlich. Ein prophetisches Bild in der Bibel, das auch die Beziehung zwischen Juden und Christen beschreibt, finden wir im Buch Ruth. Ruth trifft die Entscheidung, mit ihrer Schwiegermutter Naomi in deren Heimat zurückzukehren. Ruth sagt zu Naomi. „Dein Gott ist mein Gott!“ Es ist wichtig, dass wir das hören und verstehen. Sie sagt nicht: Mein Gott muss deiner werden, dann kann ich mit dir gehen, sondern sie sagt: „Dein Gott ist mein Gott!“ Hören wir auf das, was Gott in seinem Wort sagt: „Höret das Wort des Ewigen, ihr Völker und meldet in fernen Eilanden und sprecht: Er, der Israel zerstreut, sammelt es und hütet es wie ein Hirte seine Herde.“ (Jeremia 31, 10)

Wir sollten uns der Geschichte stellen, uns mit ihr beschäftigen, Auslegungsmuster erkennen, die aus Traditionen entstanden und nicht biblisch begründet sind. Ein verändertes Denken ist erforderlich. Ein Herauslösen aus Denkmustern unserer Kultur. Wir müssen uns an biblischen Aussagen orientieren und traditionelle Auslegungen hinterfragen. Auch in christlichen Liedern sind antijüdische Aussagen enthalten, oder wir stoßen auf Beispiele der „Ersatz-Theologie“. Umdenken ist ein Prozess, manchmal auch ein schmerzlicher, denn er erfordert, sich von liebgewordenen Gewohnheiten zu trennen. Aber wir müssen diesen Weg einschlagen, wenn wir nicht am Ziel vorbeilaufen wollen. Als in den Ölbaum Eingepfropfte brauchen wir  die ständige und wesenhafte Lebensverbindung zu unseren jüdischen Wurzeln. Das ist nicht ein einmaliges Wissen, ein Segen, der übernommen wird, sondern es geht um eine Lebensverbindung.

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