Wo war Gott im Holocaust?
Zu den dunkelsten Kapiteln jüdischer Geschichte gehören die Grauen des Holocaust. Sie fallen ausgerechnet in die Zeit der Rückführung und Sammlung Israels. Die Juden haben in ihrer Geschichte Pogrome, Hass und Verfolgungen erlebt. Doch außer Haman, zur Zeit Esthers, haben nur Hitler und die Nazis versucht, das gesamte Volk der Juden zu vernichten. Sechs Millionen Menschen wurden umgebracht. Wo war Gott im Holocaust? Wie kann es sein, daß Gott, der sein Volk Israel als seinen „Augapfel“ bezeichnet, sie so vergeßen hat.
Der jüdische Publizist, Schriftsteller und Holocaust-Überlebende Elie Wiesel schreibt:“ Das Reich der Stacheldrahtverhaue wird für immer ein riesiges Fragezeichen bleiben. Man begreift es nicht mit Gott. Und man versteht es nicht ohne ihn.“ Eine Geschichte aus dem Midrasch, einer Sammlung jüdisch-rabbinischer Schriften zur Bibelauslegung, erzählt folgendes:
„Wenn der Heilige, gelobt sei er, kommen wird, um die Kinder Israels aus der Verbannung zu befreien, werden sie ihn fragen: Herr der Welt, Du warst es, der uns unter den Völkern verstreut hat, indem Du uns aus Deiner Heimstatt vertriebst, und jetzt bist wiederum Du es, der uns dorthin zurückführt?“ Dann wird der Heilige, gelobt sei er, mit diesem Gleichnis antworten: Ein König vertrieb seine Frau aus dem Palast und holte sie am nächsten Tag wieder zurück. Die Königin fragte ihn erstaunt: Warum hast Du mich gestern weggejagt, wenn Du mich doch wieder zurückholst? Und der König antwortete ihr: Wisse, dass auch ich den Palast verließ und Dir folgte, ich konnte dort nicht allein wohnen. Und der Heilige, gelobt sei er, sagte den Kindern Israel: Als ich sah, dass ihr meine Heimstatt verlassen habt, habe auch ich Sie verlassen, um zusammen mit euch zurückzukehren. Denn Gott begleitete seine Kinder in die Verbannung.“ (Jer. 12, 7)
Gott selber war im Elend, im Holocaust seines Volkes anwesend. Er starb mit Ihnen in den Gaskammern, Er litt mit und für sein Volk. Elie Wiesel schreibt in seinem Buch „Die Nacht“:
Gott am Galgen
„Als wir eines Tages von der Arbeit zurückkamen, sahen wir auf dem Appellplatz drei Galgen. Antreten. Ringsum die SS mit drohenden Maschinenpistolen, die übliche Zeremonie. Drei gefesselte Todeskandidaten, darunter der kleine Pipel, der Engel mit den traurigen Augen. Die SS schien besorgter, beunruhigter als gewöhnlich. Ein Kind vor Tausenden von Zuschauern zu hängen, war keine Kleinigkeit. Der Lagerchef verlas das Urteil. Alle Augen waren auf das Kind gerichtet. Es war aschfal, aber fast ruhig und biss sich auf die Lippen. Der Schatten des Galgens bedeckte es ganz.
Diesmal weigerte sich der Lagerkapo, als Henker zu dienen. Drei SS-Männer traten an seine Stelle. Die drei Verurteilten stiegen zusammen auf ihre Stühle. Drei Hälse wurden zu gleicher Zeit in die Schlingen eingeführt.
„Es lebe die Freiheit!“ riefen beide Erwachsenen. Das Kind schwieg. „Wo ist Gott, wo ist er?“ fragte jemand hinter mir. Auf ein Zeichen des Lagerchefs kippten die Stühle um. Absolutes Schweigen im ganzen Lager. Am Horizont ging die Sonne unter. „Mützen ab!“ brüllte der Lagerchef. Seine Stimme klang heiser. Wir weinten. „Mützen auf!“ Dann begann der Vorbeimarsch. Die beiden Erwachsenen lebten nicht mehr. Ihre geschwollenen Zungen hingen bläulich heraus. Aber der dritte Strick hing nicht reglos: der leichte Knabe lebte noch …
Mehr als eine halbe Stunde hing er so und kämpfte vor unseren Augen zwischen Leben und Sterben seinen Todeskampf. Und wir mussten ihm ins Gesicht sehen. Er lebte noch als ich an ihm vorüberschritt. Seine Zunge war noch rot, seine Augen noch nicht erloschen. Hinter mir hörte ich den selben Mann fragen: „Wo ist Gott?“ Und ich hörte eine Stimme in mir antworten: „Wo er ist? Dort – dort hängt er, am Galgen …“
(Elie Wiesel, Die Nacht. Erinnerungen und Zeugnis)
„Fürwahr, er trug unsere Krankheit und lud auf sich unsere Schmerzen. Wir aber hielten ihn für den, der geplagt und von Gott geschlagen und gemartert wäre. Aber er ist um unserer Missetat willen verwundet und um unsrer Sünde Willen zerschlagen. Die Strafe liegt auf ihm, auf dass wir Frieden hätten, und durch seine Wunden sind wir geheilt.“ (Jes. 53)
Die Bischöfin Maria Jepsen sagte 2010 in ihrem Vortrag „Die Gottesfrage und Auschwitz“: „Kann sich einer trauen, Gott auf die Anklagebank zu setzen wegen des Unheils in der Welt? Oder darf man sich, wie Joseph am Hof Pharaos, den Glauben an Gott erhalten, wenn er seine Erfahrungen zusammenbündelte in dem Satz: Ihr gedachtet es böse mit mir zu machen, aber Gott gedachte es gut zu machen?
Hüten wir uns zu denken, Auschwitz sage etwas über Gott. Er wolle Auschwitz gar nicht theologisch deuten, sagte der evangelische Theologe Friedrich-Wilhelm Marquardt, der konsequent eine Theologie nach Auschwitz entwickelt hat. Wenn er an Auschwitz denke, denke er „an Menschen, nicht an Gott, an die Gequälten und Ermordeten, ihre Verlassenheit von Menschen, an die Quäler und Mörder und ihre Gottlosigkeit.“ Auschwitz sagt etwas über uns Menschen, den Missbrauch unserer Freiheit, wie sehr wir seinen Willen verachten können, seinen Geboten Hohn tun, seine Geliebten verachtet haben.“ (Maria Jepsen, Die Gottesfrage und Auschwitz)
„Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?“ Das ist auch der Schrei Israels seit mehr als zweitausend Jahren. Wo ist die Liebe des Vaters Israels? Blickt man auf die sichtbare Geschichte dieses geschundenen Volkes, so braucht es große Anstrengung, um weiter an Gottes Liebe zu glauben. Der jüdische Schriftsteller Uri Zvi Grünberg, der den Holocaust überlebt hat, formuliert es so: „Geh zu den anderen Völkern, den Gojim, laß uns in Ruhe. Du bist nicht unser Gott, Du bist ihr Gott. Ja, nach der Shoa ist klar geworden, daß sie recht hatten, wenn sie behaupten, die Juden haben keinen Gott.“ Genauso sehen es viele Juden.
Doch zeigen uns die Geschichte Hiobs und das Leben Josefs, daß wir Gottes Verhalten nicht auf Grund sichtbarer Umstände beurteilen dürfen. Weder Hiob, noch Josef waren von Gott verlassen oder ungeliebt, auch wenn die Umstände das suggerieren. Die sichtbare Geschichte Israels, mit Tränen, Blut und unsagbarem Leid ist die Geschichte der Ausführung von Gottes Heilsplan, nicht der Ausdruck seiner Gefühle. Nur wer auf das Unsichtbare schaut, ahnt, welche Qual es für Gott selbst bedeutet, sein Erbarmen und seine Gnade gegenüber seinem geliebten Volk zurückzuhalten. Gott hat nicht aufgehört seinen Erstgeborenen, den er selbst zum Opfer erwählt hat, zu lieben. Doch ähnlich wie Josef hat er seine Liebe während des ganzen irdischen Weges Israels zurückgehalten – bis sein Plan erfüllt ist.
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