Die Sohnsetzung Israels
Christen erheben den Anspruch, ein besonders inniges Verhältnis zu Gott zu haben. Als Gotteskinder glauben sie an Gott den Vater, der sie ihr ganzes Leben mit Liebe und Fürsorge begleitet und ihnen nahe ist. Im Judentum dagegen sehen viele diese besondere und tiefe Beziehung zwischen Gott und Mensch nicht. Der Gott des alten Bundes erscheint ihnen als strafender und zürnender Gott, nicht als liebevoller Vater. Sind also Gottessohnschaft oder Gotteskindschaft ein christliches Privileg? Keineswegs, denn beide Begriffe sind ausgesprochen jüdische Merkmale. In Gottes Augen ist Israel etwas Besonderes, denn Israel ist der „Sohn Gottes“. Der Prophet Jeremia weist die Völker darauf hin: „Ich bin Israels Vater und Ephraim ist mein erstgeborener Sohn“ (Jer. 31, 9). Was bedeutet das? Was zeichnet Israel aus? Was unterscheidet es von anderen Völkern, oder von Christen?
Der Apostel Paulus benutzt im Römerbrief, Kapitel 9 ein besonderes Wort, um diese herausragende und besondere Beziehung zwischen Gott und Israel zu charakterisieren. Dieser Begriff kommt im Neuen Testament nur in seinen Briefen vor. Er spricht von der „Sohnsetzung“ (gr.„hyothesia“) Israels. Paulus schreibt von seinen Brüdern „nach dem Fleisch“: „Sie sind Israeliten, denen die Sohnsetzung gehört und die Herrlichkeit und die Bundesschlüsse und das Gesetz und der Gottesdienst und die Verheißungen, denen auch die Väter gehören und aus denen der Messias herkommt nach dem Fleisch.“ (Röm. 9, 4. 5) Das griechische Wort „hyothesia“ setzt sich zusammen aus hyios, der Sohn und thésis, die Setzung, oder Einsetzung. Luther übersetzt den Begriff mit „Kindschaft“. An Jeschua gläubige Nichtjuden haben zwar den Geist der „Sohnsetzung“ empfangen (Römer. 8, 15), aber sie warten, oder sehnen sich noch nach der „Sohnsetzung“ (Röm. 8, 23). Die Israeliten haben diese „Sohnsetzung“ bereits. Sie sind „Sohn Gottes“. Wichtig: Mit dem Hinweis „Brüder nach dem Fleisch“ unterstreicht Paulus, daß es hier nicht nur um gläubige, oder besonders fromme Juden geht. Sondern dem Volk der Israeliten als Ganzes gehören alle Verheißungen. Ein entscheidender Unterschied, den der Apostel zwischen Israeliten und nicht-jüdischen Gläubigen macht.
Der Status Israels im Unterschied zu allen anderen Völkern und auch im Unterschied zu Christen besteht also darin, daß dieses Volk von Gott als Sohn eingesetzt ist. Die Vater-Sohn-Beziehung geht vom Vater aus. Christen treffen in der Regel eine Entscheidung für Gott, sagen ja zu ihm. Bei Israel geht die Entscheidung von Gott aus. Er hat sich dieses Volk erwählt. Ein Jude bleibt ein Jude, auch wenn er das gar nicht sein will. Israel ist Gottes erstgeborener Sohn. Den Ausgangspunkt dieser herausgehobenen Beziehung Israels zu Gott finden wir in 2. Mose 4, 22. 23. Dort spricht Gott durch Mose zum Pharao: „So spricht der HERR: Israel ist mein erstgeborener Sohn; und ich gebiete dir, dass du meinen Sohn ziehen lässt, dass er mir diene.“ Als einziges Volk der Welt besitzt Israel ein Erbrecht. Gott hat Israel adoptiert, ins Sohnschaftliche Recht eingesetzt: „Wie gern will ich dich unter die Söhne aufnehmen und dir das liebe Land geben, das allerschönste Erbteil unter den Völkern.“ (Jer. 3, 19) Die Gabe des Landes an Israel bestätigt diesen Adoptionsakt. Indem Israel das Land in Besitz nehmen darf, empfängt es sein Sohnschaftliches Erbe.
„In der Verknüpfung von Sohnschaft und Erstgeburtsthematik liegt der eigentliche Aussagewert von Ex. 4,22-23. Israel ist für Gott so viel wert, wie ein erstgeborener Sohn für seinen Vater wert ist, mit anderen Worten, Israel hat für Gott einen höchsten Wert, wir dürfen ruhig sagen einen existenziellen Wert. Denn der erstgeborene Sohn gilt als der eigentliche Träger der väterlichen Lebenskraft. Israel als Gottes erstgeborener Sohn wird so gleichsam zum Träger des göttlichen Lebens, zum Inkarnationsprinzip Gottes. Auf Israel hin hat Gott sein Leben ausgerichtet.“ (Vitus Huonder, Israel Sohn Gottes).
Auch der Prophet Hosea beschreibt Israel als Gottes Sohn: „Als Israel jung war, gewann ich ihn lieb und rief meinen Sohn aus Ägypten“ (Hos. 11, 1). Übrigens eine von vielen Gemeinsamkeiten, die Israel mit Jeschua teilt. Beide werden auch „Gesalbte“, „Licht“ und „Weinstock“ Gottes genannt. Beide hat er aus Ägypten gerufen. Israel als erstgeborener Gottessohn erfährt die besondere Hingabe seines Vaters und hat dadurch auch einen besonderen Zugang zum Schöpfer. Die Israeliten sind Gottes Eigentum: „Denn mir gehören alle Israeliten als Sklaven, sie sind mein Eigentum, weil ich sie aus Ägypten geführt habe. Ich bin der Herr, euer Gott!“ (3. M. 25, 55) Die Schrift geht so weit, Israel als Teil Gottes zu charakterisieren: „Wer euch antastet, tastet meinen Augapfel an!“ (Sacharja 2, 12) Das Volk Israel ist „des HERRN Teil, Jakob ist sein Erbe. Er fand ihn in der Steppe, in der Wüste, im Geheul der Wildnis. Er umfing ihn und hatte acht auf ihn. Er behütete ihn wie seinen Augapfel.“ (5. M. 32, 9. 10)
Beim Propheten Jesaja beschwert sich Gott, der Vater über seine ungehorsamen Kinder: „Ich habe Kinder großgezogen und hochgebracht, und sie sind von mir abgefallen“(Jes. 1, 2). Gott züchtigt sein Volk wie kein anderes und eifert um es. Die „Sohnsetzung“ wiederum verpflichtet Israel in besonderer Weise dem Vater gegenüber. „Der Herr, euer Gott, hat euch als ein heiliges Volk für sich ausgesondert; er hat euch unter allen Völkern der Erde als sein Eigentum ausgewählt.“ (5. M. 14, 2) Nur ihnen hat der Ewige sein Wort anvertraut. Paulus fragt: „Was hat dann das jüdische Volk den anderen Völkern voraus und was nützt die Beschneidung? Viel in jeder Weise! Gott hat ihnen sein Wort anvertraut.“ (Röm. 3, 1. 2) Israel weiß also um die Taten Gottes. In Psalm 111, 6 heißt es wörtlich: „Die Kraft seiner Werke verkündigte er seinem Volk“. Israel ist das einzige Volk der Welt, das seine Identität in Gott hat. Er hat Israel geschaffen. Ohne Gott gäbe es dieses Volk nicht.
Wichtig für uns: Das väterliche Empfinden und Gottes Liebe für seinen erstgeborenen Sohn hören niemals auf. Trotz aller Sünde und Fehlverhaltens Israels. So liegt in der Vaterliebe Gottes immer die Möglichkeit für einen Neuanfang Israels begründet. Wenn wir erkennen, welch großen Wert Israel für Gott hat, muß das Konsequenzen für unseren Umgang mit dem jüdischen Volk haben. Dazu gehören Buße und Reue für all die Gräuel und das Unrecht, daß den Juden im Namen des Christentums angetan worden ist. Wenn wir die große Liebe Gottes für seinen Sohn Israel entdecken, führt uns das näher zu Gott – dem Gott Israels. Letztlich weist uns also Israel der Sohn auf den Vater hin.